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Dienstag, 19. Oktober 2010

Fliesstext 10 Textfinale in Neuburg

Von Vätern und Katholiken

Neuburg (ahl) Manche sind ein wenig gruselig, die meisten (auto)biografisch, in einem Text wird’s philosophisch, ein anderer weckt eigene Kindheitserinnerungen. Aus 80 Texten, die für das Festival "Fliesstext10" eingereicht wurden, hat die Jury aus Kulturamtsleiter Dieter Distl, Notar Udo Leitenstern, Oberstudienrätin Cornelia Golling und Festivalleiter Steffen Kopetzky zehn Geschichten für das Finale ausgewählt.


Rita Brunner aus Aresing macht mit "Der Feuervogel" das Rennen
(aus http://www.Fliesstext10.de)
Der Feuervogel
„Jetz is des aa do!“ Mit einem Unterton von Zufriedenheit pflegte mein Vater diesen Satz zu sagen, wenn er eine schwierige Aufgabe erledigt oder einfach sein Tagwerk vollbracht hatte. Mein Vater war Landwirt, Bauträger, Musikant, Philosoph und Anarchist.
Nicht besonders groß, ein wenig untersetzt und die Haare wie ein Altrocker: vorne glatzköpfig und hinten mangels Interesse an regelmäßigen Friseurbesuchen immer ein wenig zu lang. Mit blitzenden, neugierigen Augen und oft einem verschmitzten Grinsen.
Seine Art, Dinge, die er nicht mehr brauchte, zu entsorgen, war etwas unorthodox. Alte Stühle, Tapetenrollen oder auch mal Autoreifen wurden kurzerhand verbrannt. „Des geht ja bloß in d´Luft!“
Als er mit Anfang 60 noch einmal ein Wohnhaus baute und meine Mutter jeden Gegenstand, der aus dem alten Haus weichen musste, mit Wehmut verabschiedete, meinte er strahlend wie ein kleines Kind: „Des Feier derf heid den ganzen Tog net ausgeh!“ Die Tatsache, dass er bei einer derartigen größeren Aktion Kontakt mit der Polizei hatte, ganz groß in der Zeitung rauskam und ein Bußgeld in uns unbekannter, aber wohl beträchtlicher Höhe entrichten musste, ist bis heute ein Tabuthema, das jede Familienfeier sprengen würde.

Eines Morgens – ich war etwa 10 Jahre alt - saß ich am Frühstückstisch. Die eingebrockte Brotrinde hatte sich gerade mit Caro vollgesogen; im Radio lief Volksmusik. Da fragte mich mein Vater, welches Instrument ich denn lernen wolle. Ich hörte auf das Musikstück im Radio und meinte, dieses Instrument da wäre doch ganz schön. So begann ich, Zither zu lernen bei meinem Vater, der selber nie einen Ton Zither gespielt hatte. Er kaufte eine Zitherschule und los gings.
Wenn er abends nach der Feld- oder Stallarbeit mit seinen schweren Schritten die Kellertreppe hochkam, kroch bei mir regelmäßig das schlechte Gewissen hoch. „Host scho g´übt?“ war seine stereotype Frage.
Mit zwölf konnte ich auf Zither und Geige leidlich Musik machen. Da meinte er, es wäre an der Zeit für mich, ein Blasinstrument zu lernen. In seiner Blaskapelle fehlten gerade Klarinetten. Kurzerhand zeigte er mir auf seiner Klarinette die chromatische Tonleiter vom tiefsten bis zum höchstmöglichen Ton und verordnete mir drei Tage Üben. Mit den Worten, ich könne ja nun alle Töne spielen, gab er mir dann ein Landlerheft und das Marschbuch der Blaskapelle mit dem Hinweis, nächsten Donnerstag sei Probe. So übte ich also den Bayerischen Defiliermarsch, „Preußens Gloria“ und andere wesentliche Stücke der Blasmusikliteratur und zog von nun an mit ihm und dem Rest der Kapelle für einige Jahre über Volksfeste, zu Fahnenweihen und Standkonzerten jeweils von Frühjahr bis Herbst.
Ungefähr zu dieser Zeit begann er selber im stattlichen Alter von Mitte 30, Kontrabass zu lernen, weil in unserer Saitenmusikgruppe, der mittlerweile auch meine jüngere Schwester mit dem ihr verordneten Hackbrett angehörte, noch ein Bass fehlte. In der Vorweihnachtszeit zogen wir nun jedes Jahr mit der Stubnmusi los zur unermüdlichen Bethlehemrallye: Vater hatte den kunstledernen Beifahrersitz von unserem orangen 200er Diesel ganz zurückgeklappt, dort wurde der Bass mit ungewohnter Zärtlichkeit verstaut, im Kofferraum Hackbrett und Zither und auf dem Rücksitz neben dem Kontrabasshals meine Schwester und ich. „Spuits gscheit und machts uns koa Schand!“, so wurden wir jedes Mal von der Mutter unter der Haustüre verabschiedet.
Wieder ein paar Jahre später - der Kreis unserer musikalischen Freunde und Bekannten wurde stetig größer – wurden Musikanten- oder soll ich jetzt sagen: Musikerfeste? auf dem elterlichen Hof zur Tradition.
Vater schlachtete ein Spanferkel, das mittags auf einen von ihm konstruierten und zusammengeschweißten Grill kam. Er wurde mit Hilfe eines Bulldoggmotors angetrieben. Nachmittags, während Mutter drinnen im Schmalznebel der Küche Kirchweihnudeln in Gastronomiemengen herstellte, war draußen im Hof das Spanferkel so weit, dass man mit einer Rohrzange knusprige und knackende Hautstücke abziehen konnte. Köstlich!
Abends kamen dann die Gäste: Musiker und Musikanten, Kammerorchester, Blasmusik, Volksmusikgruppen, es gab keinerlei Berührungsängste, dafür viel Appetit, viel Musik und viel Lachen.
Gar nicht lachen konnte mein Vater, wenn Begriffe wie „Landratsamt“ oder „Finanzamt“ erwähnt wurden. Auch für Politiker jeglicher Couleur hatte er nur ein einziges, vernichtendes Urteil parat: „Lauter Hammeln!“
An einem kalten und sonnigen Septembervormittag kurz nach der Hopfenernte machte er sich mit zwei Anhängern, übervoll beladen mit riesigen Hopfensäcken, auf den Weg nach Pfaffenhofen. Es kam, wie es kommen musste: beim Einbiegen nach dem Müllerbräu in der Kurve zur Gritschstraße kippte die komplette Ladung mit allen Hopfensäcken um. Bis heute hält niemand von uns es ernsthaft für einen Zufall, dass dieses Missgeschick ausgerechnet genau vor der Eingangstür des damaligen Finanzamtes passierte.
Richtig Respekt hatte Vater nur vor wenigen Personen: Benny Goodman, Anna Netrebko und seinem Steuerberater.
Staunend wie ein kleines Kind oder ein Philosoph kam er von seinen Reisen, die er in seinen späteren Jahren meist mit einer Raiffeisenbankgruppe machte, zurück. Die Pyramiden von Gizeh oder der Petersdom in Rom: „Saxndine, des hom de domois ois scho macha kenna!“ Sein Staunen fand auch lange nach den Reisen kein Ende.
Konzert- und Opernbesuche beeindruckten ihn ebenfalls schwer. Ganz klar unterteilte er danach den Orchesterklang in „zackige“ Bläser und „batzige“ Streicher.

„An Feuervogel vom Strawinsky, den möcht i unbedingt moi hörn“, sagte er oft zu mir. Im Veranstaltungskalender der Münchner Philharmoniker fand ich stolz einen Aufführungstermin im Oktober 2005.
In einer regnerischen Mainacht 2005 starb Vater plötzlich und friedlich. Am nächsten Morgen schien die Sonne.
„Jetz is des aa do“ ließen wir in seine Todesanzeige setzen.


Rita Brunner

Die Geschichte von Rosemarie Schowalter-Frey, die mit "Die anderen" auf Platz Zwei

Als Vertreterin der Jugend, die die Aufgabe sprachlich hervorragend löste, wird eine Pfaffenhofener Schülerin ausgezeichnet, die in "Und dann" unter dem Pseudonym Len Hawk "die ganz normale Kindheit um die Jahrtausendwende" kritisch unter die Lupe nimmt.

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